Die buddhistische Ruinenstätte von Tepe Narenj (Afghanistan) liegt südlich der Altstadt von Kabul an der Flanke eines Hügels namens Koh-e-Zanburak („Berg der kleinen Wespe“) und direkt neben einer der Handelsstraßen, die einst Kabul und Indien miteinander verbanden. Tepe Narenj ist neben Mes Aynak (s. Vitrine 13) eine der wichtigsten neueren Entdeckungen nicht nur für die Region um Kabul, sondern für die Archäologie des Buddhismus überhaupt.
Aufgrund von Zufallsfunden archäologischer Relikte begann das Afghanische Archäologische Institut mit der systematischen Untersuchung der Fundstelle, die seit 2004 unter der Leitung von Zafar Paiman ausgegraben wird. Zwar sind Teile des buddhistischen Heiligtums durch das Wachstum der modernen Stadt bereits überbaut worden, doch konnten umfangreiche Baustrukturen, die sich über eine Reihe von künstlich angelegten Terrassen erstrecken (Abb. B und C), freigelegt werden, Die mittlere Terrasse beherbergt den Hauptstupa (Abb. D). Insgesamt lassen sich vier Bauphasen unterscheiden, die vom 5. Jahrhundert bis ins späte 10. oder frühe 11. Jahrhundert reichen.
Aufgrund des dichten chronologischen Rahmens, der aufwendigen Architektur und Ausstattung sowie der Verlässlichkeit der archäologischen Schichtabfolge bietet Tepe Narenj einen neuen Referenzpunkt für die Kulturgeschichte der Region. Dies betrifft insbesondere das hochrangige Patronatswesen, von dem der Buddhismus ab dem 5. Jahrhundert profitierte, als Kabul eine der Hauptstädte der hunnisch dominierten Sphäre wurde.
Die Skulpturenausstattung aus bemaltem Lehm zeichnete sich von Beginn an durch die Monumentalität der Hauptkultbilder aus. Hier sind besonders die in einer flachen Nische erhaltenen Reste eines kolossalen Lehmbildnisses zu erwähnen, dessen Füße allein eine Länge von 71 cm aufweisen. Es handelte sich vermutlich um die Darstellung eines sitzenden Maitreyas – des Buddhas der Zukunft – zwischen zwei kleineren Figuren an den flankierenden Mauern, von denen lediglich die Sockel erhalten sind. Mit ihrer beeindruckenden Größe und gleichzeitig geringen architektonischen Einfassung dürften die drei Figuren über eine weite Distanz sichtbar gewesen sein.
Ebenso bemerkenswert ist in einer der Kapellen die Figur eines königlichen Stifters, der vor einem gigantischen, sitzenden Buddha kniet, welcher wiederum von seinem Begleiter Vajrapani („Träger des Vajra“) sowie weiteren Bodhisattvas und Verehrern umgeben ist (Abb. D). Die mit drei Mondsicheln versehene Krone des knienden Stifters deutet auf einen hunnischen Fürsten hin.
Die Funde von Tepe Narenj belegen für den Raum Kabul das Vorhandensein einer hochstehenden Kunstproduktion, die gleichzeitig ortsspezifisch wie auch in die allgemeinen Strömungen der Zeit eingebettet war. Aufgrund der teils sehr eigenwilligen architektonischen Formen und Grundrisse ist Tepe Narenj darüber hinaus eine willkommene Informationsquelle für die Entwicklung der religiösen und rituellen Konzepte des Buddhismus in der zweiten Hälfte des 1. Jahrtausends.